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Titel
Karten und Mission. Die jesuitische Konstruktion des Amazonasraums im 17. und 18. Jahrhundert


Autor(en)
Saladin, Irina
Reihe
Historische Wissensforschung (12)
Erschienen
Tübingen 2020: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XX, 390 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Hensel, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die Erfassung und Repräsentation von Räumen, die den Europäern unbekannt waren, spielten in der Kolonisierung anderer Weltregionen eine wichtige Rolle. Karten waren ein Mittel der Aneignung der Welt. Irina Saladin untersucht in ihrer Studie, die auf ihre Dissertation im Graduiertenkolleg „Religiöses Wissen“ an der Universität Tübingen zurückgeht, die Wissensproduktion von Jesuiten über den Amazonasraum und stellt dabei das Medium der Karte ins Zentrum. Sie fragt danach, welche Bedeutung die Missionspraktiken für die Wissensproduktion über die Region hatten und welche Rolle wiederum die Erstellung von Karten für die Mission und hier besonders für den Orden der Jesuiten spielte. Die Studie ordnet sich ein in den jüngeren Trend der Wissensgeschichte, die die Bedeutung globaler Verflechtungen für die Entstehung vermeintlich europäischen Wissens betont. Die Komplexität und Diversität von Wissensproduktionen greift die Autorin dabei mit dem Ansatz der globalen Mikrohistorie auf. Saladin nimmt sowohl die an dem Produktionsprozess der Karten beteiligten Akteure als auch deren Umfeld in den Blick und behandelt die Frage von Sinnzuweisungen, die sich aus den Karten ergaben. Dabei unterscheidet sie zwischen der Intention der Kartenzeichner und der Rezeption der Karten durch andere. Neben den Karten selbst zieht Saladin umfangreiches schriftliches Quellenmaterial für die Analyse heran. Die Studie besticht durch ihr theoretisches und methodisches Fundament. Sie bezieht sich auf Ansätze der critical cartography und bedient sich dabei dem Instrumentarium der Dekonstruktion von Karten, wie es von John Brian Harley entwickelt wurde.1 Neben den kartografischen Darstellungen im engeren Sinne untersucht sie auch die ikonografische Gestaltung von gedruckten Karten und deren symbolische Bedeutung genauestens.

Die Studie ist in fünf inhaltliche Kapitel unterteilt, die auf die Gesellschaft Jesu und deren Verhältnis zur Wissensproduktion eingehen (Kap. 2) , die politische Bedeutung von Karten beleuchten (Kap. 3), das situierte Wissen für die Erstellung von Karten in den Blick nehmen (Kap. 4), die Konstruktion eines jesuitischen Identitätsraums (Kap. 5) und die ethnografischen Inhalte der Karten (Kap. 6) untersuchen. Die Verbindung von Mission und Wissenschaft in der Gesellschaft Jesu bilden den Ausgangspunkt der Studie. Hier zeigt die Autorin, dass es für die Jesuiten keinen Widerspruch zwischen ihren religiösen Überzeugungen und der Betrachtung der Natur mit Hilfe wissenschaftlicher, messbarer Daten gab. Vielmehr spielte u.a. die Geografie im Orden eine wichtige Rolle: die geografische Beschreibung von Missionsgebieten in aller Welt galt gleichermaßen als erbaulich und gottgefällig. Gleichzeitig diente sie den Jesuiten bei der Festigung ihres Selbstbildes eines global agierenden Ordens.

Anhand von Karten des Amazonasgebietes aus dem 17. und 18. Jahrhundert, widmet Saladin sich dann verschiedenen Fragen, die mit der Kartenproduktion zusammenhängen. In die kartografische Repräsentation der Amazonasregion im von Spanien beanspruchten Tiefland der Provinz Quito flossen mythische Vorstellungen über die Amazonen ebenso ein wie politische Konkurrenzen um die Region zwischen Spaniern und Portugiesen, aber auch zwischen verschiedenen Missionsorden. Mit der Kartenproduktion verband sich deshalb für die Jesuiten vor Ort auch ein Anspruch auf die Mission in der dargestellten Region und manchmal ein Appell an die Obrigkeit, sie möge militärisch eingreifen. Hier zeigt Saladin, dass Darstellungsabsicht und Rezeption der Karten nicht unbedingt übereinstimmen mussten.

Die Kartenproduktion der Jesuiten (und dies ließe sich wohl auf alle anderen Kartografen der Zeit und Region übertragen) hing zu einem wesentlichen Teil von den Informationen der Bevölkerung vor Ort ab. Saladin diskutiert die Abhängigkeit der Missionare von indigenen Ortskundigen, die allerdings häufig eigene Interessen verfolgten und Missionare etwa über die Unwegsamkeit von Gebieten falsch informierten, wenn sie die Missionare aus einer Region fernhalten wollten. Aber schon der Zugang zu der Region wäre den Missionaren ohne die Hilfe von Bewohnern kaum möglich gewesen. Die indigenen Informanten bestimmten die Wege und manchmal auch die Distanzen, die zurückgelegt wurden oder eben auch nicht. So verwirklicht die Autorin die immer wieder erhobene, aber wegen der oftmals problematischen Quellenlage schwieriger umzusetzende Forderung, den indigenen Beitrag zur Wissensproduktion von Europäern in anderen Weltregionen in die Analyse einzubeziehen.

Weitere Themen der Untersuchung sind die Verwendung christlicher Ikonografie in den Karten sowie die Konstruktion religiöser Räume mithilfe dieser Karten. Hier ist die Diskussion des globalen Anspruchs der Gesellschaft Jesu gegenüber der Bildung konkreter Ordensprovinzen hervorzuheben. Saladin zeigt hier auch, wie die Kartenproduktion Teil des Aneignungsprozesses der Region und ihrer Bewohner:innen durch die Jesuiten war. Die Analyse der Darstellungsweisen in den Karten bringen immer wieder interessante Ergebnisse und Saladin interpretiert selbst weiße Flecken auf Karten einleuchtend nicht einfach als unbekannte Regionen, sondern als mit Bedeutung aufgeladene Inhalte.

Einen weiteren wichtigen Aspekt der Studie bildet die Frage nach der Darstellung der indigenen Bevölkerung in den Karten über die Zuweisung von Charakteristika wie „christianisiert“ und „barbarisch“, aber auch der Siedlungsgebiete unterschiedlicher Sprachgruppen. Im Zusammenhang mit den Sprachstudien, die Jesuiten vornahmen, um die Mission vorantreiben zu können, spielte dieses Wissen für Linguisten eine wichtige Rolle, die aus der Nähe von Sprachen und der geografischen Lokalisierung ihrer Sprecher:innen eine Geschichte der Bevölkerungen in der Region rekonstruierten.

Saladin legt eine umfassende, durchdachte und gut lesbare Studie zu den Zusammenhängen von Religion, Empirie und Wissen sowie deren Bedeutungen im missionarischen, politischen und wissenschaftlichen Kontext am Beispiel der jesuitischen Karten vor. Mission und Wissensproduktion bedingten sich gegenseitig, sie waren aber nicht nur abhängig von den Interessen ihrer Produzenten, sondern auch von indigenen Ortskundigen, deren Anteil an der Kartenproduktion allerdings von den europäischen Akteuren kaum anerkannt wurde. Saladin geht sehr umsichtig und methodisch versiert in der Interpretation der Kartenwerke und ihrer Bedeutung vor und bindet diese in den politischen Kontext ein, ohne der einfachen Gleichung „Wissen ist Macht“ das Wort zu reden. Indem sie die Kontextabhängigkeit der Wissensproduktion über die Amazonasregion zeigt, problematisiert sie Wissen insgesamt als einen dynamischen Prozess. Die Studie ist über das konkrete Thema hinaus wichtig, weil sie neue Überlegungen der historischen Kartografieforschung konsequent anwendet und zeigt, dass historische Karten keine neutralen Repräsentationen von geografischen Verhältnissen sind. Mit der Untersuchung wird die räumliche Dimension in der Debatte über Kontaktzonen2 gestärkt.

Saladin greift in ihrer Untersuchung ein relevantes Medium der europäischen Expansion auf und zeigt, wie wichtig die Wissensproduktion in den untersuchten Karten für die Orientierung in fremden Regionen und die Aneignung dieser Regionen war. Noch bedeutender waren die Karten aber, und dies zeigt die Autorin ebenfalls, um Einflusssphären der Orden abzustecken und eigene Identitätskonstruktionen zu untermauern. Insgesamt leistet die Studie einen wichtigen Beitrag zur Wissensproduktion und ihrer Dezentrierung im 18. Jahrhundert. Sie ist für alle lesenswert, die sich für globalhistorische Themen, Wissensgeschichte und Mission interessieren.

Anmerkungen:
1 John Brian Harley, Deconstructing the Map, in: Cartographica 26,2 (1989), S. 1–20.
2 Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, 2. Aufl., New York 2008.

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